Tibet auf eigene Faust (NZZ, 23.3.2012)

Götter und Soldaten schützen Lhasa – widersprüchliche Eindrücke aus der Hauptstadt

Pilger, Händler und Touristen teilen sich die Hauptstadt Tibets. Kontrolliert wird Lhasa aber vom chinesischen Militär. Touristen haben diverse Einschränkungen hinzunehmen, was widersprüchliche Eindrücke hinterlässt.

Der Wind beutelt die tibetischen Gebetsfahnen, welche an dem Flughafengebäude von Lhasa hängen. Ebenso rüttelt er an den Flugzeugen, die zur Landung ansetzen. Erleichtert steige ich aus der Kleinmaschine, froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu spüren. Gelb leuchten die Lerchenwälder am Rande des Flugareals, kontrastieren mit der braunen Erde. Ein Kleinbus fährt mich entlang des Kyi Chu-Flusses ins Zentrum von Lhasa. Im Hotel empfängt mich freundlich eine Tibeterin, ergreift meine Reisetasche und steigt flink die Treppen hoch. Ich keuche ihr nach. Schon die geringste Anstrengung schnellt aus Mangel an Sauerstoff meinen Puls in die Höhe. Lhasa liegt auf 3650 Meter über dem Meeresspiegel.
Niedrig und düster ist mein Hotelzimmer in der obersten Etage. Durch ein kleines Fenster überblicke ich die Stadt. Tibetische Ornamente zieren die Dächer. Im Hintergrund erhebt sich der Potala Palast. Dort studierte im Jahr 1943 der fünfjährige Dalai Lama die heiligen Schriften des Buddhismus. Er ist der 14. Dalai Lama. Alle seine Vorgänger lebten ebenfalls im Potala. Sie bestimmten die politischen und geistlichen Geschicke des Landes. Nachdem die Chinesen 1950 Tibet besetzten, floh der Dalai Lama nach Indien. Doch der Potala blieb das wichtigste Symbol für Tibet und für den tibetischen Glauben. Tendzin Gyatso, wie der heutige Dalai Lama mit bürgerlichem Namen heisst, sieht das allerdings etwas anders. In einem Interview reagierte er einmal irritiert und meinte: «Potala ist doch bloss ein Gebäude!» Ein geschulter Geist wisse, dass alles nur eine Illusion sei.
Heute besuchen täglich Tausende von Touristen den Potala. Für die meisten ist der Palast tatsächlich nur ein Gebäude, ein Stopp auf dem Parcours der Sehenswürdigkeiten. Hingegen glauben andere, durch die spirituelle Aura des Tempels eine Annäherung an den tibetischen Buddhismus zu erreichen. Verkommt die Religion zum Konsumgut? Die chinesische Regierung hat die Besuchszeit im Potala-Tempel auf eine Stunde beschränkt. Verweilt ein Gast länger, erhält er eine Geldstrafe.
Mein Blick bleibt am Palast hängen. Dann schliesse ich den Vorhang und schleppe mich ins Bad, wo ich mich übergebe. Ich leide an der Höhenkrankheit, welche sich in Kopfschmerzen und Übelkeit manifestiert.

Pilger strömen durch die Stadt
Nach einem kurzen Mittagsschlaf trete ich mit flauem Magen hinaus auf die Gasse. Der Nachmittag ist kalt. Die Häuser der Altstadt liegen eng beisammen. Sie schützen so die Bewohner gegen Wind und Wetter. Erst ausserhalb der Altstadt verbreitern sich die Strassen. Dort bauen die Chinesen. Ihr Baustil, pompös und mächtig, kontrastiert mit dem alten Lhasa. Die Altstadt wirkt gegen den neuen Stadtteil wie eine ge- panzerte Schildkröte. Im Innern der Schildkröte aber brodelt es. Unzählige Pilger teilen sich das Pflaster mit feilschenden Händlern, gebratenen Hähnchen und frittierten Teigtaschen. Dazwischen zwängen sich Mopeds hupend durch die Menschenmenge.
Die Pilger murmeln Gebete und steuern den Johkang-Tempel an. Ich mische mich unter sie und lasse mich zur heiligsten Stätte des Landes leiten. Dort habe ich mich mit meinem tibetischen Reiseleiter verabredet. Der Menschenstrom mündet in einen grossen Platz vor dem Heiligtum. Hunderte von Pilger werfen sich vor ihm auf den Boden. Wochen, teils Monate, waren die Gläubigen unterwegs, um den Tempel zu ehren. Meist zu Fuss, und teilweise sogar auf allen Vieren kriechend, erreichten sie die Stadt. Dazu banden sie sich zum Schutz der Gelenke Holzplatten an die Hände und Knie.
Sie legen sich ausgestreckt auf den Boden, stehen auf und werfen sich eine Körperlänge weiter wieder zu Boden. Je anstrengender die Wallfahrt, desto mehr Tugend erwerben die Tibeter gemäss ihrem Glauben. Dies soll sie der Erleuchtung näher bringen. Ich beobachte die Menge. Touristen klammern sich an ihre Kameras, Pilger drehen in ihren Händen Gebetsmühlen, welche Gebetsschriften enthalten. Indem die Gläubigen diese handlichen Mühlen drehen, schleudern sie gemäss ihrem Glauben die Gebete in den Wind und zu den Göttern. Mir fällt eine Tibeterin auf. Sie telefoniert mit ihrem Handy und trägt einen Mundschutz.
Plötzlich tippt mir ein Mann auf die Schulter. Erschrocken fahre ich herum. Tashi, mein Reiseleiter, grinst mir ins Gesicht und meint: «Junge Frauen schützen ihr Gesicht vor der Sonne. Helle Gesichtsfarbe ist modisch.» Unzählige Pilger ziehen an der Frau vorbei. Sie alle haben dunkle, sonnengegerbte Gesichter.

Beten unter Militäraufsicht
Tashi führt mich zum Haupteingang des Tempels. Geschnitzte Wachgottheiten säumen die Tore. Sie sollen die buddhistischen Wahrheiten beschützen. Vor den Toren und auf den Dächern rund um den Tempel beobachten chinesische Soldaten die Pilger. Mit geladenen Waffen schützen sie den Staat vor Unruhen. Als ich die Szene fotografieren will, wehrt Tashi ab: «Wenn Du deinen Apparat behalten willst, lass es bleiben. Die Chinesen lieben es nicht, wenn ihre Militärpräsenz publik wird.» Ich drehe mich um und knipse stattdessen die Wachgottheiten am Tempeleingang.

Danach begeben wir uns in den Innenhof. Dort sitzen junge Mönche am Boden, vor ihnen stehen ihre Gebetsbrüder. Sie duellieren sich mit Worten. Der Stehende befragt den Sitzenden über heilige Texte. Nach der Frage klatscht der Stehende in die Hände. Der Mönch am Boden soll schneller antworten. Hinter den Mönchen, welche sichtlich Spass an den Lernübungen haben, erstrecken sich Kapellen über zwei Stockwerke. Gottheiten und Buddha Bildnisse zieren die Wände. In einer dieser Kapellen sitzen andere Mönche und musizieren auf Tambouren und Zithern. Weichrauch steigt in die Luft.
Tashi beobachtet die Mönche. Er erzählt mir, wie er selber vom Mönch zum Reiseleiter wurde. Er hatte den Buddhismus in einem Kloster in Indien studiert. Dann begann er, Kinder von Tibet über die Grenze nach Indien zu schmuggeln, um ihnen eine kostenlose Ausbildung zu ermöglichen. Das chinesische Militär habe ihn dabei erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Er sei gezwungen gewesen, aus dem Kloster auszutreten. Heute ist Tashi verheiratet und hat eine kleine Tochter.

Lhasa entstand auf einem See
Wir begeben uns auf das Dach des Tempels. Die Altstadt liegt zu unseren Füssen. Gemäss einer Legende lag hier früher ein See. Generationen versuchten, den See trockenzulegen, um hier diesen Tempel zu bauen. Erst eine chinesische Prinzessin erkannte, dass der See auf dem Bauch einer Dämonin lag, welche verhindern wollte, dass sich der Buddhismus in Tibet ausbreitete. Die Prinzessin nahm ihren Ring, so die Sage, und warf ihn in den See. In einer himmlischen Eingebung erkannte sie danach, dass nur Ziegen den See austrocknen könnten. Ziegen sind Symbole für buddhistische Schutzgottheiten. Die Ziegen transportierten die Erde in den See und schufen das Fundament für den Tempel.
Der Name der Hauptstadt entstand aus dieser Legende. Aus Ziegen, tibetisch Ra, und Erde, tibetisch Sa, wurde Rasa. Später wandelte sich der Name in Lhasa. Geologische Forschungen zeigten zudem, dass es im Tal von Lhasa früher tatsächlich einen See gegeben hat.
Die Sonne verschwindet hinter der Bergkette. Der Pilgerstrom verebbt allmählich. Wir verlassen den Tempel und setzen uns in ein tibetisches Restaurant. Einheimische trifft man da nicht. An langen Tischen sitzen vorwiegend Touristen und verspeisen lokale Spezialitäten. Ich schlürfe eine Nudelsuppe, Tashi geniesst ein Yak-Steak. Er liebt das Fleisch dieser tibetischen Hochlandrinder.
Als wir auf den Hauptplatz zurückkehren, ruht der Jokhangtempel verlassen in der Dunkelheit. Davor bündelt ein Verkäufer seine Ware. Jugendliche tummeln sich in einer Ecke, rauchen, plaudern. «Die jungen Tibeter wandeln irgendwo im Limbo zwischen der Spiritualität ihrer Väter und dem Kapitalismus ihrer Invasoren», meint Tashi. Sie seien aber selbst in ihrer Heimatstadt nur Arbeitskräfte zweiter Wahl. Die Chinesen dominieren den Markt. Mein Magen verkrampft sich, meine Kopfschmerzen kehren zurück. Ich verabschiede mich von Tashi und wanke durch die Gassen zurück in mein Hotelzimmer. Da wandert mein Blick durch das Fenster zum Potala-Palast, welcher noch hell beleuchtet über der Stadt strahlt.

Sanfte Medizin für harte Burschen

Ende des 15. Jahrhunderts sinnierte Leonardo Da Vinci in seinen anatomischen Studien 'über den Penis: dieser streitet sich mit dem menschlichen Intellekt, hat manchmal sogar selber einen Intellekt, und obwohl der Mann ihn stimulieren will, bleibt der Penis hartnäckig und geht seine eigenen Wege.' 

Auf allen Kontinenten disputieren Ärzte seit Jahrtausenden über diesen widerwilligen Intellekt.
Um die physischen Ursachen zu bekämpfen, verschrieben Indiens Ärzte 'honiggesüsste Milch, in der die Hoden eines Widders oder Ziegenbocks gekocht wurden.' Damit werde der Mann so kräftig wie ein Bulle. (aus: Kama Sutra, ca. 700 v. Chr.)

In Konstantinopel empfahl der Arzt Aetius im sechsten Jahrhundert neben schwellenden und wärmenden Nahrungsmitteln, dass 'sie [...] sowohl ihre Leisten als auch ihr Glied mit in Öl verriebenem Pfeffer und Wolfsmilch' massieren sollten. Der österreichische Arzt Otto Lederer bekämpfte in der Vorkriegszeit des 20. Jahrhunderts ebenfalls die physiologischen Ursachen der Impotenz. Mithilfe einer Saugglocke erigierte er das Glied und befestigte an der Peniswurzel einen Gummiring, um die Erektion beizubehalten.
Anders verstand sein Zeitgenosse Sigmund Freud die Impotenz. Sie sei 'eine Störung der Liebesfähigkeit des Mannes [welche dieser überwindet, wenn er sich] mit der Vorstellung des Inzests mit Mutter oder Schwester befreundet hat.'

Ebenso fokussierten sich die Ärzte im Alten Ägypten (ca. 3000 v. Chr.) auf die psychischen Ursachen dieser Störung. In mythologische Symbole aus Teig ritzten sie den Namen des Feindes ein, welcher die Impotenz verschuldet hatte. Anschliessend hüllten sie den Teig in fettes Fleisch und verfütterten ihn einer Katze.
In China erzählte im 17. Jahrhundert der Schriftsteller Pu Songling, wie Geistwesen dem impotenten Liän schwarze Pillen verabreichten. Daraufhin fühlte jener 'unterhalb des Nabels heissen Dampf in sich eindringen und merkte, dass sich da zwischen den Schenkeln etwas bewegte.'

Ähnlich behandelte ich vor 15 Jahren einen Patienten. Da lediglich seine Zunge geschwollen und feucht war, erhitzte ich seine Nieren mit rauchenden Nadeln. Die Erektion allerdings blieb weiterhin aus und bald auch der Patient. Kürzlich kehrte er, jetzt bereits pensioniert, in meine Praxis zurück. Diesmal beklagte er sich über die Beziehung zu seiner Frau. Seine Erektion allerdings habe er zurückgewonnen. Auf mein verdutztes Gesicht hin ergänzte er: "Ich habe nun einen Freund!"

Von Lokomotiven und Akupunkteurinnen

"Männer arbeiten an der Lok, Frauen betreuen die Passagiere", erzählte mir ein sibirischer Kollege im Zug unterwegs von Moskau nach Peking. Betrachten wir den Körper als Lokomotive und den Geist als Passagier, stimmt dies ebenfalls in der Medizin. Die Männer dominieren mit 59% die Schulmedizin, die Frauen die Alternative Medizin. 75% sind Akupunkteurinnen, 79% Homöopathinnen. Natürlich arbeiten wir in der Akupunktur ebenfalls am Körper, jedoch, ähnlich den Schaffnerinnen, indem wir die Gänge passierbar halten.

Die Lokführer zudem sind häufiger Männer, Lernende häufiger Frauen. Die TCM-Schule in Winterthur besuchten in den letzten Jahren 85% Studentinnen. Ebenso in Pekings Schule für Akupunktur und Tuina überwiegen mit 70% die Schülerinnen. Dabei sind die Dozenten häufiger männlich. Berufe wie Lokführer, Dozent und Arzt sind prestigeträchtiger, was für Männer wichtiger erscheint. Tatsächlich verschiebt sich die Zahl der Schulmediziner, welche mit Chinesischer Medizin arbeiten: 57% sind Männer.

Die Frauen wiederum stellen die grössere Zahl der Passagiere in unseren Praxen. Im Jahr 2012 zog es 6.6% aller Schweizerinnen und 3.2% aller Schweizer in die Akupunktur. Im selben Jahr dagegen suchten 69% der weiblichen und 63% der männlichen Gesamtbevölkerung mindestens einmal den Schulmediziner auf. Dieser Unterschied ist vernachlässigbar. Ist die TCM also eine Frauenmedizin?

Tatsächlich hilft die TCM gut bei gynäkologischen Beschwerden. Schmerzen allerdings verspüren auch Männer. Der Ruf der Akupunktur als sanfte Medizin zieht jedoch mehr Frauen an. Während Männer ihre Schmerzen gerne verdrängen, gehen die Frauen der Ursache häufiger auf den Grund. Das Gespräch und der Wohlfühleffekt sind in unseren Praxen wichtig. Allzu oft verkommen sie jedoch zu einem Chinesischen Wohlfühltempel. Im Hintergrund säuselt Musik, Düfte schweben über den Klientinnen und Spiritualität liegt in der Luft. Eine nüchternere Ambiente spricht mehr Männer an.

Angekommen in Peking fiel mir im TCM-Spital auf, dass ebenso viele Männer wie Frauen die Betten belegen. Von Spiritualität ist dort nichts zu spüren. Schmerzensschreie, ausgelöst durch starke Nadelstimulationen, hallten nicht selten durch die Gänge.

Bei den Schulmediziner scheint sich langsam ein Wechsel anzubahnen. Im Frühjahr 2017 waren in Zürich 57% der Studierenden der Medizinischen Fakultät weiblich. Bleibt zu hoffen, dass auch mehr Männer sich der TCM widmen. Die Schaffner, welche uns im Zug von Ulan Bator nach Peking betreuten, waren ausschliesslich Männer.